Tatjana Kostima und Anton Sydorchenko sind beide blind und seit sieben Jahren ein Paar. Gemeinsam sind sie aus der Ukraine geflohen.
Nikolaus Fischnaller
So sieht
die Innenstadt von Charkiw heute aus. Zahlreiche Luftangriffe zerstörten
große Teile der Stadt.
Auch die Blindenschule, in der Tatjana Kostina lehrte, ist nach einem Luftangriff
teilweise zerstört worden
Tatjana Kostina und ihr Lebensgefährte Anton Sydorchenko sind aus der Ukraine nach Bozen geflüchtet - mit einem Blindenstock in der Hand. Vieles haben sie zurückgelassen. Das verzerrte Geräusch einer Bombenexplosion jedoch nicht. VON MIRIAM ROSCHATT
BOZEN Während
unweit ihres Hauses in Charkiw eine weitere Bombe einschlägt, sitzen
Tatjana Kostina und Anton Sydorchenko in ihrem Keller. Sie spüren, wie
Böden und Wände erzittern. Hören Schüsse. Angst verspüren
sie keine mehr. Vielmehr quält sie die ungewisse Zukunft. 27 Tage lang
verharren die beiden mitten im Kriegsgeschehen, bis sie am 23. März aus
ihrer Heimat flüchten können - bis nach Bozen.
Tatjana Kostina und .Anton Sydor-chenko sind blind. Auf die Frage, wie Sie
denn als Blinde die russische Invasion und den Krieg erleben, antwortet Tatjana:
„Nun, eigentlich ganz genauso wie alle anderen auch. Wir Blinde kriegen
alles mit." Im Blindenzentrum St Ra¬phael in Bozen haben sich die
beiden Ukrainer mittlerweile eingelebt. Bereits unmittelbar nach Kriegsausbruch
hatte Nikolaus Fischnaller,
der Präsident des Blindenzentrums, seine langjährige Freundin kontaktiert
und ihr angeboten, hierher zu kommen. Doch Kostina und ihr Lebensgefährte
Sydorchenko waren noch nicht bereit für die Flucht.
Nikolaus Fischnaller
Das gewohnte Umfeld sei für blinde Menschen ungemein wichtig, um möglichst
unabhängig und vor allem eigenständig leben zu kön¬nen,
erklärt die 44-Jährige. In Charkiw, der zweitgrößten
Stadt der Ukraine mit über 1,5 Millionen Einwohnern, kannten sich die
beiden bestens aus. Tatjana Kostina arbeitete als Deutsch- und Englischlehrerin
in einer Blinden¬schule, Anton Sydorchenko war für ein IT-Untemehmen
als Software-Entwickler tätig. Sieben Jahre lebten sie schon gemeinsam
in einem Haus etwas außerhalb des Stadtkerns. Ihr Tagesablauf war gut
organisiert: „Zum Einkaufen sind wir immer in
dasselbe Lebensmittelgeschäft gegangen, weil wir den Weg dorthin kannten
und ganz genau wussten, wo welches Produkt steht“ sagt Kostma.
Jener routinierte Alltag, auf den sie so sehr angewiesen waren, endete abrupt,
als der Krieg Ende Februar ins Land zog. Und mit ihm eine unsägliche
Unsicherheit.
Kostina: „U-Bahn konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen"
Geboren wurde Tatjana Kostina in Poltava, einer Stadt in der Zentralukraine, etwa 350 Kilometer süd-östlich von Kiew. Eine angeborene Sehschwäche bestimmt seit jeher ihr Leben. Mit drei Jahren war sie zusätzlich an eine Tischkante gestoßen und hatte sich dabei ihre beiden bereits geschwächten Augen schwer verletzt Die nachstehende Operation missglückte, Tatjana Kostina erblindete vollends. Vier Jahre später starb ihre Mutter. Daraufhin zog sie gemeinsam mit ihrem Vater in den Nordosten der Ukraine, nach Charkiw. Mit 42 Universitäten und Hochschulen ist die Stadt nach Kiew das bedeutendste Wissenschafts- und Bildungszentrum des Landes. Nachdem auch ihr Vater allzu früh verstorben war, verbrachte die mittlerweile 15-Jährige ihre gesamte Jugendzeit über in einem Schülerheim für Blinde. Es war der Ort, an dem sie später als Lehrkraft arbeiten würde. An der Universität in Charkiw studierte Tatjana Kostina Deutsch und Englisch auf Lehramt sowie Blinden- und Sonderpädagogik Im Februar 1998, die junge Frau war gerade auf dem Weg zur Uni, geschah dann das unfassbare: „Ich stürzte in das Gleisbett der U-Bahn-Station. Der einfahrende Zug konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und erfasste mich. Wie durch ein Wunder überlebte ich, verlor jedoch meinen linken Arm." Ein halbes Jahr verbrachte Tatjana Kostina im Krankenhaus - perspektivlos. Indes nahmen zwei polnische Ordensschwestern, die die junge Frau gut kannten, Kontakt zu Maria Fischnaller aus Südtirol auf und baten die gut vernetzte Schwester von Nikolaus Fischnaller (i.B.) um Mithilfe bei der Suche nach einer Prothese für die Verunglückte. „Meine Schwes¬ter Mariedl, die selbst blind war, pflegte beste Kontakte zum Blindenapostolat im In- und Ausland" erzählt Fischnaller. Gemeinsam mit Pater Paul Haschek habe sie nach längerer Suche dann im Burgenland eine geeignete Prothese gefunden und mittels Spendengeldern bezahlt. Kostina verspürt tiefe Dankbarkeit, wenn sie an jene Hilfsbereitschaft zurückdenkt. Seitdem reise sie jedes Jahr für ein paar Tage nach Südtirol, um ihre Freunde im Blindenzentrum Bozen zu besuchen.
„Der Krieg ist viel schlimmer, als blind zu sein"
Wenn Tatjana
Kostina heute ihr bisheriges Leben Revue passieren lässt, dann weiß
sie: „Die aktuelle Kriegssituation ist sehr viel schlimmer als die Tatsache,
blind geworden zu sein oder nur mehr einen Arm zu haben." Die Ukraine
sei zum Gebiet der Ungewissheit geworden; und damit kämpfte die
44-Jährige Tag für Tag. Mit Beginn des Krieges waren die beiden
als Blinde in besonderem Maße auf Hilfe angewiesen. Doch freiwillige
Helfer vor Ort waren rar. „Wir wollten den unzählige Menschen,
die schwer krank und pflegebedürftig sind, die wenigen helfenden Hände
nicht wegnehmen" so Kostina. Nun waren sie bereit, zu fliehen. Dorthin,
wo Tatjanas langjährige Freunde bereits auf sie warteten. Gemeinsam mit
einer Mitarbeiterin des Hilfswerks UNICEF organisierte eine gute Freundin
die Flucht der beiden. Am 23. März stiegen sie um 7 Uhr früh in
einen Zug, der sie nach Lemberg brachte, eine ukrainische Stadt, die im Westen
des Landes, etwa 80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, liegt I6
lange Stunden saßen die beiden im völlig überfüllten
Zug. Ein paar wenige Habseligkeiten hatten sie mitgenommen, in der Hoffnung,
dass alles andere in ihrem Haus unbeschadet zurückbleiben würde.
In Lemberg wurden sie von Freiwilligen an die polnische Grenze gefahren. Von
dort aus ging es mit dem Zug über Wien bis nach Innsbruck, wo sie dann
der Hausmeister des Blindenzentrums Bozen, Marco D'Altrozzo,
mit dem Auto abholte.
In Bozen angekommen, hatte Nikolaus Fischnaller mit seinen Mitarbeitern bereits
alles vorbereitet: Schlafzimmer, Verpflegung, Hygieneartikel. Und natürlich
eine große Portion Gastfreundschaft. „Wir sind dankbar, dass es
so großzügige Menschen gibt wie hier im Blindenzentrum. Es ist
wahnsinnig im positiven Sinne, einen so guten Freundeskreis zu haben, der
uns auch bei bürokratischen Angelegenheiten zur Seite steht und uns überall
hin begleitet" sagt Tat¬jana Kostina sichtlich gerührt.
Sydorchenko:
„Wir bezahlen einen hohen Preis"
Auch Anton
Sydorchenko fühlt sich in Südtirol gut aufgehoben. Geboren wurde
der 39-Jährige in der Region Luhansk im Donbass (Ost-Ukraine). Dort erlebte
er bereits vor achten Jahren Krieg. Prorussische Separatisten stellten sich
damals der neuen Regierung in Kiew entgegen und gründeten nach einem
umstrittenen Referendum die beiden „Volksrepubliken“ Luhansk und
Donezk. Damals flüchtete Sydorchenko vor dem Krieg nach Charkiw, wo er
Tatjana Kostina kennenlemte. Mit ihr baute er sich ein neues Zuhause auf -
bis er dieses nun abermals verlassen musste.
Hier in Südtirol habe es ihm besonders die Küche angetan. Jedoch
vermisse er eine ukrainische Spezialität, die zu seinen Leibspeisen gehört:
„Borschtsch" eine dicke Suppe, die traditionell mit roter Beete
und Weißkohl zubereitet wird.
Wie lange Tatjana Kostina und Anton Sydorchenko im Blindenzentrum St. Raphael
bleiben werden, ist ungewiss. Kostina ist sich sicher, dass der Krieg noch
andauem werde. „Wir bezahlen einen hohen Preis für die scheinbare
Freundschaft mit Russland. Anton selbst ist sogar halber Russe. Wofür
das ganze also?" Am schlimmsten sei aber die russische Propagandamaschinerie,
die bereits in der Vergangenheit gezielt Fehlinformationen über die Ukraine
und deren Position zu Russland verbreitet hatte. „Immer wieder wurde
behauptet, wir dürften in der Ukraine auf offener Straße nicht
russisch sprechen. Das ist einfach nicht wahr!"
Nun bleiben die beiden erst einmal in Bozen. Angehörige, die in Charkiw zurückgeblieben sind, schauen ab und an nach dem Haus der beiden am Stadtrand. In der Hoffnung, dass es noch steht.
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