Wenn die Welt im Nebel
liegt
Alltag voller Hindernisse: Silvia Schäfer und Gabi Krack
leiden an einer Netzhauterkrankung
Von unserer Redakteurin Dorothee Müller
REGION Es ist, als ob man
in ein Nebelloch starrte: Ausgefranstes Grau, wo eigentlich scharfe Umrisse
und Farben erkennbar sein sollten. „Ich weiß gar nicht, wie man
richtig sieht. Früher dachte ich immer, ich sehe wie die anderen“,
sagt Gabi Krack (51) aus Salmünster, die seit ihrer Jugend an fortschreitender
Makula-Degeneration leidet. Dadurch ist ihr das Sehen in der Mitte des Blickfeldes
heute völlig unmöglich.
Bis vor einigen Jahren konnte Krack mit Hilfe von starken Brillengläsern
zwar noch Auto fahren, doch das Tempo, in dem ihre Welt von grauem Nebel verschluckt
wurde, nahm rasant zu. 1999 musste die gebürtige Wächtersbacherin
ihren Beruf als Heilerziehungspflegerin aufgeben: „Ich habe die Aufschrift
auf den Arzneimittelpackungen nicht mehr erkannt.“
Denn wenn die Makula zerstört wird, ist es nicht mehr möglich, Dinge
zu fixieren und scharf zu sehen. Der so genannte „gelbe Fleck“ ist
mit einem Durchmesser von etwa 1,5 Millimetern zwar nur eine winzige Zone in
der Netzhaut, aber sie enthält die wichtigsten Sinneszellen des Auges und
ist damit das menschliche Sehzentrum. Schätzungen des Verbands „Pro
Retina“ zufolge leiden bis zu zwei Millionen Menschen in der Bundesrepublik
an einer Form der Makula-Degeneration; die Ursachen sind unterschiedlich. Während
die Schädigung der Sehzellen in den meisten Fällen altersbedingt ist,
wurde bei Gabi Krack und ihrer Bekannten Silvia Schäfer (45), die ebenfalls
in der Kurstadt lebt, „Morbus Stargadt“ diagnostiziert, eine Form
der Makula-Degeneration, die genetische Ursachen hat. Bundesweit gibt es rund
8000 Betroffene – und für alle ist die Bewältigung des Alltags
eine ständige Herausforderung. Das beginnt an der Fußgänger-Ampel:
Die Anlage am Ortseingang von Bad Soden ist beispielsweise nicht mit akustischem
Signal ausgestattet.
Silvia Schäfers Gesicht bekommt einen konzentrierten Ausdruck, dann wendet
sie den Kopf in Richtung des Geräuschs, mit dem ein Auto sich der Ampel
nähert. „Andere schauen, wir lauschen“, erklärt sie und
setzt sich in Bewegung, nachdem das Auto sich entfernt hat. Der Weg ist ihr
vertraut, denn sie arbeitet in einer nahe gelegenen Kurklinik als Masseurin
und medizinische Bademeisterin.
Ihr Blindenstock gleitet in einer ständigen Pendelbewegung vor ihr über
den Boden. An der Bordsteinkante bleibt er hängen – automatisch hebt
Schäfer der Fuß, um nicht zu stolpern. Die täglichen Wege halten
für die Frauen eine Unmenge von Fallen bereit: Das Kopfsteinpflaster von
dem alten Rathaus in Bad Soden wirkt zum Beispiel völlig verwirrend, weil
die unterschiedlich hohen Steine keine Möglichkeit der Orientierung bieten.
„Am besten sind für uns durchgängige Kanten oder Markierungen,
an denen wir uns entlang tasten können“, erklärt Schäfer.
Mittlerweile gegen die beiden Frauen mit ihren Blindenstöcken so selbstverständlich
um, als seien sie nichts anderes als die Verlängerung ihrer Arme. Aber:
„Überhaupt zu akzeptieren, dass wir dieses Hilfsmittel brauchen,
war ein schwieriger Prozess“, berichten die Frauen übereinstimmend.
Denn die Stöcke werden von ihren Benutzerinnen auch als Stigma empfunden:
„Wir sehen die Menschen um uns herum nicht, aber sie erkennen uns durch
die Stöcke sofort als Blinde“, erläutert Schäfer. Hinzu
komme der Argwohn der anderen, denn mit einer Makula-Degeneration sei zwar das
Zentrum des Gesichtsfeldes meist ausgeschaltet, aber die Orientierung im Raum
weiterhin möglich, da die Sehzellen an der Peripherie der Netzhaut in der
Regel erhalten bleiben.
„Es kann durchaus sein, dass ich um einen Pfosten herumgehe, weil ich
ihn am Rande des Gesichtsfelds erkannt habe“, schildert Schäfer,
„und prompt denken die Leute, ich simuliere.“
Dass die meisten Blinden über einen – wenn auch geringfügigen
– Sehrest verfügen, sei vielen Menschen nicht bewusst. Und so kämpfen
die Frauen nicht nur mit den Hindernissen, die der Alltag für sie bereit
hält, sondern auch mit den Vorurteilen und der mangelnden Sensibilität
der Menschen im direkten Umfeld. „Das versetzt einem schon manchmal einen
Stich, wenn die Leute einem zum Beispiel vorhalten, dass man sie nicht grüßt“,
sagt Krack.
„Sich damit abzufinden, langsam blind zu werden, ist sehr hart –
wenn dann auch noch solche Spitzen kommen, ist man manchmal sehr verzweifelt.“
Dass die beiden Frauen ihr Schicksal annehmen und Lebensfreude bewahren, liegt
auch am intensiven Austausch mit anderen Betroffenen im Blinden- und Sehbehindertenbund
Hessen. Krack und Schäfer gehören beide zur Bezirksgruppe Hanau und
haben sich bei einer Wanderung kennen gelernt. „Pitschedapper“ nennt
sich die Gruppe nicht ohne Selbstironie, auf hochdeutsch „Pfützentreter“.
„Außer Freizeitgestaltung bietet die Organisation auch praktische
Lebenshilfe und Beratung“, erklärt Schäfer.
Für Erleichterung im täglichen Leben sorgt auch die Technik: Beide
Frauen möchten beispielsweise auf ihre sprechende Küchenwaage nicht
mehr verzichten. Allerdings haben solche Erfindungen auch ihren Preis und müssen
meist aus eigener Tasche bezahlt werden. Die Kosten für die Maxlupe, eine
Art Kasten mit eingebauter Kamera, die Buchstaben bis zu 15-fach vergrößern
und Kontraste verändern kann, wurden hingegen von der Krankenkasse übernommen.
„Damit geht das Lesen zwar langsam, aber es geht“, berichtet Schäfer.
Einen Supermarkt-Navigator gibt es indes noch nicht, weswegen die Frauen am
liebsten in ihrem vertrauten, kleinen Laden einkaufen gehen. Doch auch in bekannter
Umgebung kann es zu Fehlgriffen kommen: „Eigentlich wollte ich neulich
Pulver für Knödel mitbringen. Als ich zu Hause die Tasche auspackte,
sagte mein Sohn: ,O super, es gibt Kartoffelpuffer.‘“ Also wurde
der Speisezettel geändert: „Wir sind ja flexibel“, sagt Schäfer
– und lacht.
Hintergrund:
Makula-Degeneration (MD)
Eine Reihe von erblichen und nicht erblichen degenerativen Netzhauterkrankungen
schädigt vor allem das Sehzentrum, die Makula. Da bleibt das äußere
Gesichtsfeld und somit die Orientierungsmöglichkeit des Betroffenen erhalten.
Nachtblindheit tritt in der Regel ebenfalls nicht ein, da die Stäbchen
außerhalb der zentralen Netzhaut funktionstüchtig bleiben. Einige
Symptome, die aus der Schädigung der Makula resultieren: Verschlechterung
von Sehschärfen, von Lesefähigkeit, von Kontrastempfinden, von Farbsehen
und von Anpassungsfähigkeit an veränderte Lichtverhältnisse sowie
Erhöhung der Blendempfindlichkeit. Es ist dem Betroffenen nicht mehr möglich,
einen Gegenstand direkt zu betrachten (fixieren). So kann man zum Beispiel den
Gesprächspartner sehen, nicht aber seine Gesichtszüge erkennen. Erkrankungsalter
und Ausprägung der Symptome variieren und hängen von der Erkrankungsform
ab.
Altersabhängige Makula-Degeneration
(AMD)
Die altersabhängige Makuladegeneration hat zwei unterschiedliche Verlaufsformen.
Die weitaus häufigere (zirka 85 Prozent) ist die „trockene“
Form. Hierbei sterben zentrale Netzhautzellen langsam ab. Dieser Zelluntergang
führt zu einer ganz allmählichen Sehverschlechterung. Gelegentlich
tritt auch über längere Zeit ein Stillstand ein, so dass manche Betroffene
mit optischen oder elektronischen Hilfsmitteln noch bis ins hohe Alter lesen
können. Wirksame Medikamente oder andere Behandlungsmethoden gibt es nicht.
Bei der selteneren „feuchten“ Makuladegeneration kommt es zu Flüssigkeitsansammlungen
unter der Makula, meist aus eingewachsenen Aderhautgefäßen. Das Austreten
von Flüssigkeit aus den Blutgefäßen führt zur Schädigung
der lichtempfindlichen Zellen der Makula. Dadurch entsteht eine Verzerrung des
auf der Netzhaut entworfenen Bildes, so dass für den Betroffenen als erstes
Anzeichen gerade Linien gebogen erscheinen, später treten Flecken im Gesichtsfeldzentrum
auf.
Morbus Stargardt beginnt meist mit einem relativ plötzlichen Sehschärfeverlust (Visus) im Kindes- oder Jugendalter. Dieser schreitet weiter fort, wobei Geschwindigkeit und Art des Fortschreitens sehr unterschiedlich sein kann. In einigen Fällen nimmt die Sehschärfe innerhalb weniger Monate dramatisch ab. Die zentralen Gesichtsfeldausfälle (Skotome) bedingen Schwierigkeiten beim Fixieren und Sehen von Details. Personen und Gesichter können häufig nicht mehr erkannt werden, das Lesen ohne Hilfsmittel wird schwierig, aber die Orientierung im Raum bleibt erhalten. Diese Beeinträchtigung bleibt aber meist auf die Makula begrenzt, so dass sich die zentralen Gesichtsfeldausfälle nach einiger Zeit nicht weiter ausbreiten und die Randbereiche der Netzhaut nicht betroffen werden. Ein Restsehvermögen von etwa zehn Prozent bleibt meist erhalten. Die Blendungsempfindlichkeit ist erhöht, die Anpassung an die Lichtverhältnisse wird schwieriger, das Farbensehen verschlechtert sich. Nachtsehstörungen gehören nicht zu den Merkmalen eines Morbus Stargardt. /KN
Kontakt:
Ein Stammtisch für
Sehbehinderte und Sehende findet jeden zweiten Montag im Monat in der Gaststätte
„Da Enzo“ in Salmünster statt.
Kontakt zum Blindenbund Hanau unter Telefon (0 61 8 1) 95 66 63 oder im Internet
unter www.tibsev.de
www.pro-retina.de