In der Frankfurter Rundschau stand am 27.07.2015 ein Artikel über die Ausstellung "Fake", die von unseren Mitgliedern Margit und Achim Becker besucht wurde.
Lesen mit dem Zeigefinger
HANAU Diskussion mit Vertretern
des Blindenhunds in der Ausstellung „Fake"
von Agnes Schönberger
Margit Becker kann die schemenhaften Gesichter auf den großen Tüchern
in der Johanneskirche nicht erkennen. Auch nicht die Worte in Blindenschrift,
die der Künstler Klaus Schneider häufig in seinen Werken verwendet.
Becker ist seit 35 Jahren blind, nachdem ihr ein Tumor im Kopf entfernt wurde.
Die Hanauerin und ihr Mann Achim Becker waren als Vertreter des Blindenbunds
Hanau am Sonntag der Einladung der Dekanin Clau¬dia Brinkmann-Weiß
gefolgt, über die Ausstellung „Fake" (Fälschung) im Gotteshaus
zu diskutieren. Becker konnte die Blin¬denschrift übrigens nicht entziffern,
weil die Punkte sich auf dem Stoff nicht ertasten lassen.
Aber auch die sehenden Besucher wussten nicht, wer auf den unscharfen Bildern
abgebildet ist (es sind Fotografien von Köpfen einer Abendmahlsdarstellung).
Die Punkteraster sagten ihnen ebenfalls nichts. Achim Becker, der
von Geburt an sehbehindert ist, meinte, dem Künstler gehe es wohl vor allem
um die „blinden Flecken" der Sehenden. „Sie sehen zwar die
Bilder, wissen aber auch nicht mehr als Du", sagte er zu seiner Frau.
Auch wenn die Diskussionsgäste zur Ausstellung selbst wenig beitragen konnten,
vermittelten sie Einsichten in das große Thema des Künstlers, der
sich mit dem Verhältnis von Wahrneh¬mung und Kommunikation beschäftigt.
Margit Becker hatte mit 23 Jahren mühsam die Blindenschrift erlernen müssen,
die heute wegen der fortgeschrittenen Computertechnik immer weniger Menschen
beherrschen. Wenn sie mit dem Zeigefinger über die erhabenen Punkte fährt,
also „liest", sieht sie die Wörter immer noch in Schwarzschrift
vor sich.
Sie kennt auch Farben und weiß deshalb, wie romantisch ein Sonnenuntergang
oder eine fla-ckernde Kerze an einem Winterabend sein kann. Vor Weihnach¬ten
zündet sie bis heute Kerzen an.
Es gehe ihr um die Stimmung, die dann wieder lebendig werde, sagte sie. Um sich
in der Wohnung oder auf der Straße zurechtzufinden, bedarf es nach ihren
Worten höchster Konzentration. Denn wenn sie etwas verlege, finde sie es
nicht wieder. Unaufmerksamkeit hat ihren Preis. Ein¬mal klappte sie nach
dem Putzen des Bads den Kiodeckei zu und kippte kurz darauf schwungvoll das
dreckige Wasser in die Toilette, wie sie glaubte. Zur Strafe für ihre Vergesslichkeit
durfte sie den Boden noch einmal wischen.
Viele Hilfsmittel
Fürs Einkaufen im
Supermarkt mit seinen Tausenden von Artikeln hat sie eine elegante Lösung
gefunden: „Da schicke ich meinen Mann hin." Margit Becker ist dankbar
für die vielen Hilfsmittel, die es inzwischen gibt. So kann sie prüfen,
ob der Backofen die richtige Temperatur hat. Nützlich ist auch die sprechende
Waage. Im Gespräch mit den Eheleuten, die
seit Jahrzehnten als Masseure im Klinikum Hanau arbeiten und viel reisen, wird
deutlich, dass die haptische Wahrnehmung, also das Erfühlen von Konturen,
im Verschwinden begriffen ist. Stattdessen erfolge die Erschließung der
Welt sehr stark übers Sehen, sagte die Dekanin. Für Blinde hat das
fatale Folgen, weil Sensoren an Waschmaschinen oder Wischbewegungen übers
Smartphone für sie nicht taugen. Auch die Navigations-App hat ihre Tücken,
weil sie nichts von Löchern im Boden oder Barrieren weiß.
Zur Inklusion hat Achim Be¬cker eine klare Meinung. Er glaubt, dass Kinder
eher von Gleichartigen profitieren, weil sie sich an deren Leistungen messen
würden. In einer Regelschule werde zuviel Rücksicht genom¬men,
und das sei nicht gut. Eine Besucherin will wissen, was Margit Becker davon
hält, wenn Leute ihr Hilfe anbieten. „Fragen dürfen sie. Aber
sie sollten nicht beleidigt sein, wenn ich mit Nein" antworte, sagte sie
selbstbewusst.
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